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LE-Nightflight

Bericht

Kultur Shock

Mittwoch 12.05.2004, Tangofabrik, Leipzig

Emotionen ungefiltert, echt, tief, Freude und Begeisterung pur, Trauer blank, Erlebnisse, Erfahrungen so unterschiedlich wie prägend, Energie ungebremst – das ist die Basis für Kultur Shock, die Basis auf der ihre Musik entsteht - Music straight from the heart. In der Tangofabrik entzündeten sie damit die Herzen ihrer Zuhörer. Die Luft brannte, die Horde tobte obwohl weder Punks noch ausgesprochene Ska-Fans erschienen waren. Es wurde gefeiert, getanzt und mit ekstatischem Trampeln wurden drei Zugabenblöcke erzwungen.

Ein unglaublich energiegeladenes Konzert war gerade zu Ende gegangen. Die Leute hatten getanzt, waren wie wild gesprungen, hatten mitgesungen, waren völlig aus dem Häuschen. Kultur Shock hatten sich wirklich nicht lumpen lassen und gaben auch in zwei umfangreichen Zugabenteilen alles. Kräftemäßig sichtlich am Ende glaubten sie wohl, sie hätten den Abend höchst erfolgreich beendet. Doch ihr Publikum war noch längst nicht zufrieden gestellt. Und obwohl sich bereits die Platten des DJ’s drehten, rief und trampelte es weiter. Tatsächlich kamen sie noch einmal und gaben definitiv die letzten Kräfte.

Es war ein lauter, ein wilder Abend in der Tangofabrik. Aber als Gino, Srdjan Yevdjevich von seiner Heimatstadt Sarajevo sang, war es ruhig. Da erzählte jemand schmerzvoll, ließ ohne jeden Pathos seine Erinnerungen frei, rang mit seinen Gefühlen. Obwohl die wenigsten wohl die Worte verstanden, es brauchte keine Erklärungen. Und irgendwie schien es nur folgerichtig, völlig naheliegend, dass Amy Denio ihm mit der Hand über den Rücken strich - bei einem Konzert an sich eine eher ungewöhnliche Geste. In seiner Heimat war er ein Star, erfolgreich mit Music ebenso wie mit Theater, Film, Fernsehen und Entertainment. Er war gerade 29 Jahre alt, da begann der Krieg. Das vierte Album seiner prominenten Band ‚Gino Banana’ blieb unveröffentlicht. Mit der äußerst erfolgreichen Theaterproduktion „Hair Sarajevo, A.D. 1992” kam er als Co-Autor, Co-Komponist und Schauspieler Mitte der Neunziger Jahre nach Amerika. Es war gleichzeitig die Chance, noch mal ganz neu anzufangen. Und er nutzte sie mit ‚Kultur Shock’, gegründet 1995 vom bosnischen Serben Gino und dem bosnischen Kroaten Mario Butkovich. Mario, der als Junge das Gitarre spielen bei Zigeunern lernte, war 1995 nach Seattle gekommen, nachdem er dreieinhalb Jahre in einem Flüchtlingscamp in Kroatien lebte.

‚Kultur’ – diese Schreibweise wählten sie bewusst, um die südöstlichen Wurzeln der Musik zu assoziieren. Denn zwar auch ein deutsches Wort, hat es vor allem slawischen Ursprung. Und eben so hat auch ihr Projekt ‚Kultur Shock’ eine slawische Seele. Es ist die Volksmusik aus den bulgarischen Dörfern, es sind die Zigeunertraditionen des Balkans, die Stimmung auf arabischen Märkten, es ist die Mentalität der osteuropäischen Völker, woraus sich Melodien und Rhythmen speisen. Doch denkt man bei Balkan und Tradition zuerst einmal an schwingende bunte Röcke fröhlich tanzender Folkloregruppen, bekommt man von ‚Kultur Shock’ richtig was auf die Ohren. Hier mischen sich Balkanfolklore mit Ska, die Zigeunerballaden mit Punk, arabische Weisen treffen auch mal auf Metalriffs. Und Amy Denio macht daraus ihren im wahrsten Sinne urwüchsigen Jazz, bringt die vertraktesten Rhythmen mit einer Freude und Leichtigkeit ins Spiel. Es ist einfach schön ihr zuzuhören. Und genau das will sie ja. – Sie suche beständig nach Schönheit, wenn sie improvisiert, äußerte die Amerikanerin in einem Interview. 

Das schönste bei ‚Kultur Shock’ ist die Harmonie mit der sich die Kulturen die Hand reichen um sich abzuwechseln oder ganz miteinander zu verschmelzen. Stilsicher und kreativ gehen sie mit den Grundlagen auf hohem spieltechnischen Niveau um, schöpfen etwas so ganz bestimmt noch nie da gewesenes. Schöner kann man den Beweis nicht antreten, dass Multikultur nicht nur funktioniert sondern eine völlig neue Dimension bedeutet.

Eine wilde Horde Vollblutmusiker schafft, was geschniegelten Europa-Parlamentariern immer weniger gelingt, die Vision von Einigung und Austausch über nationale und ethnische Grenzen hinweg glaubhaft zu vermitteln. Wie scheußlich hätte es geklungen, hätten sie in Kleinkrämermanier und mit Lobbyismus versucht, ihre Einflüsse zu mischen?

Zu Beginn war ‚Kultur Shock’ stärker auf Akustikgitarre, Akkordeon und Gesang ausgerichtet, stand der Folk südosteuropäischer Zigeuner im Mittelpunkt. Aber in Seattle hatten sie auch einen gewissen Bobby Iochev getroffen. Dieser stammte aus Bulgarien und war in seiner Heimat Drummer bei der prog-rock Band ‚Orion’, einer sehr erfolgreiche Band, die unter anderem beim San Remo Festival 1990 Beachtung fand. Ermutigt auch von Nirvana-Bassist Krist Noveselic, entschied sich die Band für mehr Power. Und da der Ex-Orion-Gitarrist Val Kiossovski bereits 1989 als politischer Dissident nach Amerika immigriert war, wurde es im Sommer 2000 endlich Zeit, auch mit ihm zusammenzutreffen. Er brachte auch gleich einen punk-wave Hintergrund aus seiner Zeit bei der bulgarischen Band ‚Milena’ mit. Den aus Tokyo stammenden Bassisten Masa Kobyashi bat Gino die Band zu komplettieren, als er in Seattle Jazz studierte. In Japan hatte Masa bereits bei zahlreichen Punk- und Harcore-Bands gespielt. Mit Val’s Heavy-Gitarre und dem Druck von Bobby’s Schlagzeug und Masa’s Bass bekam die Folk Musik eine Energie, mit der sie schon bald Seattle rockten und wenig später durch ganz Europa tourten.
Mittlerweile sitzt am Schlagzeug Chris Stromquist. Seine liebe zum Reisen brachte ihn schon durch die ganze Welt bevor er zu ‚Kultur Shock’ kam. Im bolivianischen Jungle studierte er schwarze Spinnen und Affen. In Leipzig traktierte er sein Schlagzeug aufs Feinste. Polyrhythmik schien für ihn nur eine Frage der Anzahl seiner Gliedmaßen zu sein. Während das Hihat zischend Tempo und Rhythmus straight vorgab, positionierte sich immer mal wieder ein einzelner Trommelschlag irgendwie neben der Linie. Nach und nach baute Chris an den Trommeln einen neuen, gegenläufigen Rhythmus auf, der sich endlich neben dem ersteren etablierte.
Aber ähnliche Ungeheuerlichkeiten hatten sie alle drauf. Amy Denio verblüffte mit einer einzigartigen Weise zu singen. Nur von den Trommeln begleitet benutzte sie ihre Stimme als außergewöhnliches Instrument, deklamierte wie eine Marktfrau, fietschte in den höchsten Tönen oder trillerte einem Vogel gleich. Wer sie vor kurzem bei den ‚Tiptons’ erlebte, war vielleicht ein bisschen weniger überrascht. Unbegreiflich bleibt diese Kunst der Multiinstrumentalistin (in Leipzig „nur“ an Saxophon und Akkordeon) dennoch. Da muss ihr wohl einer ihrer exotischen Lehrer, bestimmt der nordindische Thumri-Sänger, Zauberformeln verraten haben. Masashi ‚Masa’ Kobayashi improvisierte auf seinem Fender, ließ ihn mit unglaublicher Präzision singen und trillern, als wäre sein Bass nicht wie alle Rhythmus- sondern Melodieinstrument. Mit sichtbar großer Freude setzte er auch mal einen Break mit ein paar Metalfiguren. Und Mario Butkovich - the Guru of the Gipsy, wie ihn Gino nannte – war nicht nur verantwortlich für so manche getragen sehnsüchtige Zigeunerballade. Der Gitarrist, der die Töne von den Saiten regelrecht abperlen ließ, zeigte, warum er unter die zehn besten Gitarristen Seattles gewählt wurde.
In Leipzig sei er immer wieder besonders gern, ließ Gino Srdjan Yevdjevich wissen. An das verrückte Konzert in der Gießer 16, wo sie ohne Beleuchtung vom Dach eines kaputten Schuppens spielten, an den großen Erfolg, den sie in der Plagwitzer Alternativen Szene feiern konnten, erinnerte er sich offenbar noch gut. Ganz anderes Publikum hatten sie hier in der Tangofabrik, aber ebenso großen Erfolg. So dass man sicher berechtigt auf ein Wiedersehen mit ‚Kultur Shock’ hoffen darf. Zwischendurch geben sich ja vielleicht die ‚Tiptons’ wieder mal die Ehre - damit das Warten nicht zu lang wird.

> The Tiptons 10.03.04 Tangofabrik - LE

> Kultur Shock! 06.07.03 Gießer 16 - LE

 

 

 

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